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Kein alltäglicher Einsatz

Foto: Thomas Warnack

Das DRK Biberach blickt auf das Zugunglück bei Riedlingen zurück.

Beim Zugunglück in Zell-Bechingen verloren am Sonntag drei Menschen ihr Leben, rund 40 wurden verletzt. Etwa 700 haupt- und ehrenamtliche Einsatzkräfte waren vor Ort, darunter mehr als 300 von Rettungsdienst und Bevölkerungsschutz des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und weiterer Organisationen. Wie läuft ein solcher Großeinsatz ab? Welche Strukturen müssen funktionieren? Und was passiert in den Tagen danach? Verantwortliche und Einsatzkräfte des DRK-Kreisverbands Biberach schildern Eindrücke eines Einsatzes, der kein alltäglicher war.  

Michael Mutschler ist seit fast vier Jahrzehnten im Rettungsdienst tätig. Einen Einsatz der Größenordnung wie vergangenen Sonntag erlebte der Leiter Rettungsdienst des DRK-Kreisverbands Biberach aber zum ersten Mal. Ein „Massenanfall von Verletzten“ (MANV) komme nicht allzu oft vor, am ehesten noch bei einem Busunfall oder einem Brandeinsatz. Dass das Unglück in Zell-Bechingen anders gelagert war, sei bei der ersten Meldung klar gewesen: Zugunfall mit bis zu 100 verletzten Personen, so die Leitstelle. „Für solche Fälle ist in Alarmplänen festgelegt, welche Kräfte und Rettungsmittel zu alarmieren sind“, erklärt Mutschler. „Im Vergleich zu normalen Einsätzen greifen andere Mechanismen.“ Diese Pläne werden regelmäßig angepasst und aktualisiert, sie betreffen unter anderem Rettungsdienst, Notärzte, Leitstelle und die Einheiten des Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes.  

Bei einem „Massenanfall an Verletzten“ koordiniert ein Leitender Notarzt (LNA) die ärztliche Versorgung. Unterstützt wird er vom Organisatorischen Leiter Rettungsdienst (OrgL), eine im Rettungsdienst erfahrene Person mit entsprechender Qualifikation mit dem Schwerpunkt Einsatzleitung. Hierzu gehören auch das Wissen über die ehrenamtlichen Strukturen und Ressourcen insbesondere der Sonderrettungsdienste sowie grundlegende Kenntnisse im Sanitäts- und Betreuungsdienst – 14 von ihnen gibt es im Landkreis Biberach. Der LNA trifft die medizinischen Entscheidungen, der OrgL verantwortet die operativ-taktischen Leitungs- und Koordinierungsaufgaben. „Beide arbeiten eng zusammen und stimmen sich ab“, erklärt Michael Mutschler. Der Fokus liege bei einem MANV darauf, die Vielzahl an Einsatzkräften zu koordinieren, die Patientenversorgung sicherzustellen und schnellstmöglich den Transport in eine Klinik zu gewährleisten. 

Eine besondere Funktion hat bei einer derartigen Schadenslage das ersteintreffende Rettungsmittel – egal ob Rettungswagen oder Notarzteinsatzfahrzeug. Bis sich die Führungs- und Kommunikationsstrukturen gebildet haben und die Einsatzleitung vor Ort ist, beurteilt die Besatzung des ersteintreffenden Rettungsmittels beispielsweise die Lage, erfasst die Dimension des MANV, hält Kontakt zur Leitstelle, sichtet Patienten vor. 

 „Wichtig ist, zunächst einen Überblick zu bekommen“

Auch für Peter Dietz, am Sonntag als Leitender Notarzt im Einsatz, war es der erste MANV in dieser Dimension. Als er an der Bahnstrecke eintraf, waren die ersten Patienten schon gesichtet, um eine schnelle und effektive Versorgung zu gewährleisten – die Verletzten wurden nach Behandlungsdringlichkeit in Kategorien eingeteilt. „Wichtig ist, zunächst einen Überblick zu bekommen“, erklärt Dietz. Die Bilder an der Unfallstelle seien zwar eindrücklich gewesen. Letztlich laufe dann aber alles so ab, wie man es für solche Szenarien immer wieder geübt habe. Dietz zeigt sich im Rückblick froh, dass die Zahl der Schwerverletzten nicht so hoch war, wie bei einem MANV normalerweise angenommen wird. Allein der grünen Sichtungskategorie („leicht verletzt“) hatten 26 Personen zugeordnet werden können. 

David Dürr, stellvertretender Leiter der Integrierten Leitstelle Biberach (ILS), war Schichtführer, als um 18.11 Uhr die ersten Notrufe aus dem westlichen Landkreis eingingen. Noch während des ersten Notrufs wurden die ersten Einsatzkräfte losgeschickt, die Leitstelle wurde kurzfristig auf 15 Personen aufgestockt. „Wichtig war vor allem, die anstehenden und bevorstehenden Aufgaben so zu koordinieren, dass es flüssig läuft“, erklärt Dürr. 

Alarmpläne mussten aktiviert und Aufgaben verteilt werden. Die Inhalte der eingehenden Notrufe wurden miteinander verglichen. Passen die Angaben zusammen? Ergibt sich schon ein erstes Lagebild? „Es war schnell klar, dass wir es nicht mit einer normalen Situation zu tun haben“, blickt Dürr zurück. Umso bedeutender sei es, dass immer jemand vollumfänglich wisse, wie der aktuelle Stand sei und was gerade passiere. An der ILS wurde überdies der Führungsstab des Landkreises einberufen, mit dem Dürr in ständigem Kontakt stand.

Oberleitstelle unterstützt

Unterstützung leisteten nicht nur die Leitstellen in den Nachbarlandkreisen, sondern auch die Oberleitstelle in Stuttgart. Diese kann administrative Aufgaben übernehmen und beispielsweise die freien Klinikplätze in der Umgebung klären. Am Sonntag wurden die rund 40 teils schwer verletzten Fahrgäste in Kliniken nach Biberach, Ehingen, Ludwigsburg, Ravensburg, Reutlingen, Tübingen, Ulm (Universitätsklinikum sowie Bundeswehrkrankenhaus) sowie Villingen-Schwenningen gebracht. Michael Mutschler hebt deren Aufnahmebereitschaft hervor, hätten doch auch die Kliniken schnell reagiert und zusätzliches Personal einberufen. Als klar war, dass sich keine Personen mehr im Zug befinden, ging die ILS in Biberach langsam wieder in den Normalbetrieb zurück. Ein zusätzlicher Mitarbeiter war über Nacht noch im Dienst. Zudem begleitete die Leitstelle in den darauffolgenden Tagen die Bergung der zerstörten Waggons. 

Kreisbereitschaftsleiter Alexander Schirmer war noch bis Mitte der Woche in Zell-Bechingen im Einsatz. Die für die Bergung der Waggons Zuständigen wurden vom DRK im Bürgerhaus verpflegt. Schirmer war am Sonntagabend mit der Einsatzgruppe Riedlingen als einer der ersten beim verunglückten Regionalexpress RE 55 der Donautalbahn. Am Ende wurden mehr als 180 Einsatzkräfte aus dem Bereich Bevölkerungsschutz alarmiert, sowohl aus dem Landkreis Biberach als auch den umliegenden Landkreisen. 

Welche Bedeutung den ehrenamtlichen Gliederungen des Bevölkerungsschutzes in einer derartigen Ausnahmesituation zukommt, erklärt Michael Mutschler: „Der Regelrettungsdienst ist allein nicht in der Lage, einen MANV zu bearbeiten.“ Die Anzahl Verletzter und die Anzahl an Rettungskräften stünden bei einem MANV oftmals in einem Missverhältnis. Um dieses schnellstmöglich auszugleichen, könnten die in Schnelleinsatz- und Einsatzgruppen organisierten Kräfte des Bevölkerungsschutzes eine Vielzahl an Verletzten medizinisch erstversorgen. „Sie sind speziell auf solche Szenarien vorbereitet, die hierfür notwendige Infrastruktur wird dauerhaft von den Hilfsorganisationen vorgehalten.“ 

Drohnenstaffel vor Ort

Nachdem in Zell-Bechingen die meisten Patienten versorgt waren und in Kliniken transportiert werden konnten, wurde im Bürgerhaus eine Verpflegungsstelle für die Einsatzkräfte eingerichtet. Außerdem halfen die Ehrenamtlichen dem Kreisauskunftsbüro bei der Datenerfassung. Ebenfalls vor Ort war zwischenzeitlich die Drohnenstaffel des DRK Riedlingen, die den Unfallort aus der Luft dokumentierte. Rettungshundestaffeln des DRK, ASB und des BRH stellten darüber hinaus sicher, dass sich keine Fahrgäste mehr in den Wrackteilen befanden. Auch das nahe Gleisumfeld wurde abgesucht. 

Alexander Schirmer unterstreicht, dass ein derartiges Unglück mit Toten und vielen Verletzten für ehrenamtliche Kräfte eine besondere Herausforderung sei. Zwar gebe es regelmäßige Schulungen, deren Inhalte auch in Extremsituationen schnell abgerufen werden könnten. „Aber die Situation und die Örtlichkeit sind immer verschieden, man muss flexibel reagieren.“ Dies habe aber in seinen Augen organisationsübergreifend hervorragend funktioniert. Wichtig sei nun, das beim Unglück Erlebte gut zu verarbeiten. „Jeder Einzelne geht damit unterschiedlich um“, weiß Schirmer. Bereits am Unglückstag hätten die Helferinnen und Helfer viel miteinander geredet. Zudem war die Psychosoziale Notfallversorgung für Einsatzkräfte (PSNV-E) und auch die Notfallseelsorge mit Ansprechpartnern vor Ort. Wer darüber hinaus oder auch erst zu einem späteren Zeitpunkt Bedarf an Gesprächen oder Begleitung hat, kann sich jederzeit an die PSNV-E wenden. 

Einen expliziten Dank richtet der Kreisbereitschaftsleiter des DRK an die Bevölkerung von Zell-Bechingen, die den Einsatzkräften über mehrere Tage zur Seite stand. „Wir wurden an vielen Stellen unglaublich toll unterstützt, das ist keine Selbstverständlichkeit“, sagt Schirmer. „Dafür ein großes Dankeschön.“ 

24 Notärzte

Michael Mutschler zieht für das Zugunglück aus einsatztaktischer Sicht ein positives Fazit. „Der Einsatz hat in einer ruhigen Art und Weise gut funktioniert. Innerhalb kürzester Zeit waren 90 Fahrzeuge der Hilfsorganisationen, sechs Rettungshubschrauber und insgesamt 24 Notärzte vor Ort – und das im ländlichen Bereich.“ Alle verfügbaren Rettungs- und Krankentransportwagen im Landkreis waren besetzt. Teils mit Kräften des Regelrettungsdienstes, die frei hatten und nachalarmiert worden waren. Unterstützung leistete auch rettungsdienstlich qualifiziertes Personal des Werksrettungsdienstes der Firma Boehringer Ingelheim.  

Dass in einer anfänglichen Chaosphase immer etwas Unruhe herrsche, bis Führungsstrukturen aufgebaut seien, sei normal, so Mutschler. Ebenso, dass man in der Nachbetrachtung vermutlich Punkte finde, die reibungsloser hätten laufen können. Für die Nachbesprechung des Einsatzes gebe es unterschiedliche Formate. Die Führungskräfte hätten sich direkt im Anschluss ausgetauscht. Weitere Besprechungen mit den Einsatzkräften, auch den Ehrenamtlichen, sowie Vertretern der anderen Hilfsorganisationen und der Kliniken sollen in den nächsten Wochen folgen.